Pubblicato in "Grenzgänge" 7 (2000), 13, 119-133. Versione italiana: Diritto, morale, discorso in Pareto, in C. Malandrino, R. Marchionatti, (a c. di), Economia sociologia e politica nell'opera di Vilfredo Pareto, Firenze, Olschki, 2000, pp. 313-328.
Die Kritik des juristischen und moralischen Diskurses bei Vilfredo Pareto1
Vorbemerkung
"Du und deine Brüder, ihr habt keinen Respekt"
(Dem Gedenken an meine Mutter)
In der Soziologie Paretos findet man keine explizite Theorie des Rechts, der Moral oder des Diskurses, dreier Themen, die dort dennoch ständig behandelt werden. Dies geschieht oft in Exkursen und Exemplifizierungen; jedoch sind Recht, Moral und Diskurs sicher drei konstante und zentrale Objekte der theoretischen Untersuchungen Paretos. Was das Recht mit seinen vielfältigen Aspekten betrifft, so dient es im Verlaufe der fortschreitenden theoretischen Ausarbeitung quasi dazu, die Stichhaltigkeit der vorgeschlagenen allgemeinen soziologischen Theorien zu verifizieren. So ist die Theorie der nicht-logischen Handlung ein Anlaß, die allgemeine Natur des Rechts zu diskutieren. Dies trifft ebenfalls für die Theorie der Residuen zu, die darüber hinaus die Instrumente liefert, jene Gefühle aufzuspüren, deren Manifestationen das Recht erzeugen. Mit der Theorie der Derivationen gelangt Pareto schließlich zu einer Darstellung der Natur des juristischen Diskurses. Dasselbe läßt sich auch für die Moral sagen, die geradezu das Material ganzer Residuenklassen konstituiert. Insofern die Soziologie Paretos auch eine allgemeine Kritik der in der Gesellschaft produzierten Diskurse darstellt, erscheint der Diskurs als diejenige allgemeine Ebene, auf der Recht und Moral einer "wissenschaftlichen" Kritik unterzogen werden, als deren Begründer sich Pareto sieht. Wenn diese drei Untersuchungsgegenstände hier im Zusammenhang dargestellt werden, so ist dies kein rhetorischer Kunstgriff, sondern entspringt notwendigerweise genauen internen Affinitäten. Paretos Argumentation im Zusammenhang mit diesen drei Gegenständen ist oft mit seinem bekannten Sarkasmus gewürzt und hat, wie bereits gesagt, einen exemplifizierenden und abschweifenden Gang. Wichtige Entwicklungen werden nicht im laufenden Text vorgenommen, sondern oft den Fußnoten anvertraut, in denen Autoren zitiert werden, mit denen Pareto sich einverstanden erklärt. All dies erschwert die Rekonstruktion. Die Mühe ist jedoch nicht vergeblich, denn die Standpunkte, die so hervortreten, haben den Wert der Originalität und ganz sicher den einer festen Grundkohärenz. Diese Originalität und Kohärenz werden uns in den Schlußfolgerungen erlauben, an Themen anzuknüpfen, die gegenwärtig in den Wissenschaften von der Gesellschaft und des Diskurses diskutiert werden.
Das Recht als Anpassungssystem. Nach einer geläufigen Definition besteht das Recht wie Pareto beobachtet , in den Normen, die durch die Gebote der öffentlichen Macht sanktioniert werden, im Gegensatz zur Moral, in deren Falle man von lediglich durch das Gewissen auferlegten Normen spricht. Wenn auch der praktische Nutzen einer solchen Definition außer Zweifel steht, ist ihre wissenschaftliche Nützlichkeit leider gleich Null, denn, wie Pareto sagt, sie läßt uns höchstens den Willen oder die Willkür des Gesetzgebers erkennen, der eine moralische Regel zu Recht werden läßt, lehrt uns aber nichts über die Natur der moralischen und juristischen Akte. Andererseits sind nach Pareto die wissenschaftlichen Definitionen des Rechts nicht weniger unbefriedigend. Um dies zu zeigen, widmet er sich der Widerlegung einer Bemerkung des englischen Rechtshistorikers Sir Henry Sumner Maine, der in seinem Ancient Law festhält, daß die antiken Gesellschaften durch Familien konstituiert wurden und daraus die Schlußfolgerung zieht, das antike Recht sei "so framed as to be adjusted to a system of small independent corporations".2 In Bezug auf diesen Abschnitt ficht er zuerst die Version des französischen Übersetzers Courcelle-Seneuil an, der Sumner Maine so übersetzt, daß das antike Recht "est conçu pour un système de petites corporations indépendantes".3 Nach Pareto ist "adjusted" nicht mit "conçu" zu übersetzen, sondern eher mit "accomodato" ("angepaßt"). Das antike Recht ist nicht "entworfen für", sondern "angepaßt an" ein System kleiner unabhängiger Korporationen. Schon diese kleine Übersetzungsfrage gibt uns eine Vorstellung davon, worin das Recht nach Pareto besteht, daß es nichts ist, das von jemandem in Funktion von etwas anderem gedacht wird (intellektualistische Auffassung), sondern eher als ein System anzusehen ist, das sich einer Umwelt (einem Sachverhalt) spontan anpaßt. Pareto beobachtet zweitens, daß derselbe Intellektualismus, der die Übersetzung Courcelle-Seneuils beeinflußt, auch jenem juristischen Prinzip zugrunde liegt, das Sumner Maine aus der Bemerkung ableitet, derzufolge die antiken Gesellschaften aus kleinen unabhängigen Korporationen zusammengesetzt gewesen seien. So schreibt Sumner Maine, daß die Korporationen niemals sterben und dementsprechend das ursprüngliche Recht die betreffenden patriarchalen Familiengruppen als ewig und unauslöschlich ansah.4 Daraus folgert er die im römischen Recht anzutreffende Einrichtung der universitas iuris, die bis zum Tode übertragen wird.5 Nun wirft Pareto in der ihm eigenen Ausdrucksweise ein, daß dies zwar sehr wohl mit einer nachträglichen logischen Analyse vorangehender nicht-logischer Handlungen im Einklang stehen mag, aber gerade durch diese nachträgliche Rationalisierung spontaner Prozesse die Fakten nicht richtig wiedergibt. Für deren korrekte Repräsentation müsse man nämlich annehmen, daß die Sukzession der universitas iuris nicht auf einen Begriff der Korporation zurückzuführen ist, die nicht erlösche, sondern umgekehrt davon, daß der Begriff auf die Korporation zurückzuführen ist. Eine Familie oder eine ethnische Gruppe besetzte ein Territorium, besaß Herden usw.; dabei geht der Tatbestand der fortwährenden Beständigkeit der Besetzung des Bodens und des Besitzes mit aller Wahrscheinlichkeit jedem abstrakten Begriff und jedem Erbrecht voraus. Was ist nun die Substanz dieser zwar begründet scheinenden Widerlegung, zu deren Kern wir aber nicht kommen? Pareto zufolge muß mehr als bei Sumner Maine zwischen dem diritto fatto (fortwährende Beständigkeit der Besetzung und des Besitzes) und dem diritto teoria (Begriff der Korporation) unterschieden werden. Das diritto fatto wird durch eine Gesamtheit von spontanen Prozessen und Sachverhalten konstituiert, die sich regelmäßig wiederholen. Das diritto teoria besteht dagegen in einer den Fakten mehr oder weniger entsprechenden Analyse solcher spontanen Prozesse oder Sachverhalte und in den juristischen Konsequenzen, die sich aus einer solchen Analyse ergeben. Andererseits, unterstreicht Pareto weiter, betrifft die Gegenüberstellung von diritto fatto und diritto teoria nicht nur die Frage der Ursprünge. Das diritto fatto ist nicht allein ursprünglich, sondern besteht Seite an Seite neben dem diritto teoria, dringt stillschweigend in die Rechtsprechung ein, wobei es diese modifiziert und so zu neuen Theorien Anlaß gibt (TSG: I, § 256). Das diritto fatto betrifft damit die Synchronie und die Diachronie gleichermaßen. Was Pareto in den ersten Abschnitten des Trattato noch diritto fatto nennt, bezeichnet er später bei der Einführung der Begriffe des "Residuums" und der "Derivation" als "latente Prinzipien" des Rechts (TSG: I, § 802). Dabei lehnt er sich an einen Ausdruck des deutschen Juristen R. von Jhering an, aus dessen Geist des römischen Rechts er in einer Anmerkung nach der französischen Übersetzung mit einer entsprechenden Einfügung zitiert:
"Si grande qu'ait été l'habileté des jurisconsultes classiques de Rome, il existait cependant, même de leur temps, des règles du droit qui leur restaient inconnues, et qui furent mises en lumière la première fois, grâce aux efforts de la jurisprudence actuelle : je les nomme les règles latentes du droit. Cela est-il possible, nous demandera-t-on, en objectant que pour appliquer ces règles il fallait les connaître? Pour toute réponse, nous pouvons nous borner à renvoyer aux lois du langage. Des milliers de personnes appliquent chaque jour ces lois dont elles n'ont jamais entendu parler [azioni-non-logiche], dont le savant lui-même n'a pas toujours pleine conscience; mais ce qui manque à l'entendement est suppléé par le sentiment, par l'instinct grammatical".6
Das Zitat dieses Abschnitts schließt einen theoretischen Kreis, denn Pareto bezieht sich auf die Sprache sowohl zur Illustration dessen, was eine nicht-logische Handling ist (TSG: I, § 158) als auch in dem Moment, als er zeigt, wie das Paar "Residuen-Derivationen" funktioniert (TSG: I, §§ 879 ff.).7 Der Parallelismus, den Jhering zwischen den latenten Regeln des Rechts und den Gesetzen der Sprache herstellt, ist so eine Bestätigung für das analoge Funktionieren von soziologischen Studienobjekten wie der Sprache und des Rechts, für deren Studium Pareto seine theoretischen Konzepte konstruiert. Um beim Recht zu verweilen, so sind nach Jhering die Ziele des Rechts nicht nur diejenigen, die sich der Gesetzgeber stellt, wenn er die Normen setzt, sondern auch diejenigen, die dem Leben der Gesellschaft selbst immanent sind. Diese Ziele sind somit Notwendigkeiten jeder Art (Interessen, aber auch Werte), die dem gesellschaftlichen Leben entspringen und denen entsprochen werden muß, damit die Gesellschaft überleben kann.8 Das Ziel hat so eine eigene immanente Rationalität, deren Kriterium nicht die Wahrheit, sondern das Gelingen ist, wie man paraphrasieren könnte, was Piaget in Bezug auf das Denken des Kindes sagt.9 Das Ziel ist also rational, weil es sich mit einer eigenen Logik an die Umwelt anpaßt. Ausgehend von diesen Charakteristika definiert Pareto sein Konzept des Residuums, weshalb er die latenten Prinzipien des Rechts aufzeigen möchte (TSG: I, §§ 805-809), wie er es an anderer Stelle für die Gesetze der Sprache getan hat. Eines der Prinzipien des römischen Rechts ist nach Pareto das Recht auf Eigentum. Wenn dieses Prinzip einmal angenommen ist, lassen sich aus ihm analytisch viele Konsequenzen ziehen, die einen wesentlichen Teil des römischen Zivilrechts darstellen. Es gibt einen berühmten Fall, bei dem es um die Zuschreibung des Eigentums im Falle eines Gegenstandes geht, der ursprünglich Titius gehörte (Weintrauben, Metall, Holzbretter) und später durch die Arbeit von Caius transformiert wurde (Wein, Bronzevase, Schiff). Wie soll nun der Besitz des neuen Gegenstandes zugewiesen werden, der aus der Transformation durch Arbeit hervorgegangen ist? Eine Antwort könnte lauten, daß ein alter Gegenstand immer dem alten Besitzer gehört und daß ein neuer Gegenstand einen neuen Besitzer haben kann. Aber so weicht man dem Problem nur aus. Was im Gegenteil nötig ist, ist ein Prinzip, nach dem man genau feststellen kann, wie ein neuer Gegenstand von einem alten zu unterscheiden ist, und das nicht nur im allgemeinen, sondern in spezifischer Hinsicht auf den Besitz. Aus dieser Sicht kann nur eine Berücksichtigung des diritto fatto das Problem lösen. Das diritto teoria vermag nämlich nur die Entwicklung der Form zu beschreiben, so wie es Pareto zufolge Girard unternimmt, ein auf das römische Recht spezialisierter Jurist seiner Zeit, den der Soziologe für sehr fähig hält. Dieser schreibt, "il est à croire que les anciens jurisconsultes considéraient, sans raffinements doctrinaux, l'objet comme étant toujours le même".10 Dies aber, so Pareto, ist nur eine Weise, tiefer liegende Prozesse zu rationalisieren, die eben dem diritto fatto angehören. Man kann nämlich annehmen, daß das archaische Prinzip jenes war, nach welchem die Eigenschaft der Sache Vorrang vor der Eigenschaft der Arbeit hatte, und dies aus zwei Gründen. Zum einen, weil nach dem allgemeinen Prinzip, nach dem das Konkrete dem Abstrakten vorangeht, die Eigenschaften der Materie konkreter als die Eigenschaften der Arbeit sind. Zum anderen war die Arbeit in der antiken römischen Gesellschaft nicht sehr hoch geschätzt. Es ist also wahrscheinlich, daß die römischen Rechtsgelehrten unter dem Einfluß dieser kognitiven und gesellschaftlichen "Vor-Konstrukte" dazu neigten, der Eigenschaft der Materie gegenüber der Eigenschaft der Arbeit den Vorrang zu geben. In dem Bemühen, ihrem Werk ein logisches Motiv zu geben, haben sie oder ihre Nachfolger dann die Erwägung vorgebracht, daß der Gegenstand immer derselbe sei. Allerdings hätte ein anderes Motiv diesem Ziel ebenso dienen können. Auf der anderen Seite, so schließt Pareto, führte die Entwicklung der römischen Gesellschaft zu einer entsprechenden Zunahme der Abstraktionsfähigkeit und der Wertschätzung der Arbeit. Es ist also vernünftig anzunehmen, daß in späterer Zeit auch andere, der Arbeit gegenüber aufgeschlossenere nicht-logische Prinzipien aufkamen. Mit dieser Diskussion illustriert Pareto die Natur der nicht-logischen Prinzipien des Rechts. Ausgehend von der Behandlung dieses Spezialfalles von der Zuschreibung des Eigentumsrechts können wir einige allgemeine Schlußfolgerungen über die Rechtsauffassung Paretos ziehen. Wir haben zuerst gesehen, daß das Recht als ein System angesehen wird, das sich an eine Umwelt anpaßt (an einen Sachverhalt). Wir können nun hinzufügen, daß dieses adaptive System mit einem Interface versehen ist, das durch die latenten bzw. nicht-logischen Prinzipien des Rechts konstituiert wird. Letztere werden ihrerseits durch die allgemeine Entwicklung der Gesellschaft determiniert. Nebenbei sei festgehalten, daß diese adaptive Auffassung vom Recht Pareto die Möglichkeit gibt, den Kern jener Wahrheit aufrechtzuerhalten, den ihm zufolge die Theorien vom Naturrecht aufweisen (und deren Äquivalent auf sprachlichem Gebiet nach Pareto die normative Grammatik darstellt). Begriffen wie "Naturrecht" oder "Naturgesetz" würde so die Intuition eines Substrates zugrundeliegen, das der Willkür des Gesetzgebers widersteht und eine eigene Existenz führt. Dieses Substrat ist nichts anderes als der Komplex nicht-logischer Prinzipien, die mit den Lebensbedingungen der Menschen im Zusammenhang stehen und sich mit ihnen wandeln (TSG: I, § 407).
Die affektive Grundlage des Rechts. Die Sphäre der Affektivität umfaßt bei Pareto nicht nur die traditionell von der Philosophie analysierten "Leidenschaften", sondern auch bestimmte kognitive Prinzipien, die das Denken des gesellschaftlichen Individuums betreffen. Wenn wir hier von der affektiven Grundlage des Rechts nach Pareto sprechen, dann bedeutet dies einerseits, die Art und Weise herauszufinden, auf welche die "Leidenschaften" im traditionellen Sinne die Natur und die Anwendung des Rechts beeinflussen, und auf der anderen Seite, die psychologische Grundlage zu identifizieren, die an der Etablierung des Rechts beteiligt ist. In Bezug auf diesen letzten Punkt beobachtet Pareto, daß es bei vielen Völkern und in vielen Zeitaltern eine Verbindung von drei nicht-logischen Prinzipien ist, welche einer Strafgesetzgebung zur Annahme verhelfen: Die Tendenz, abstrakte Einheiten zu "beleben" (Residuum der persistenten Aggregate), das Bedürfnis wiederherzustellen, was man für gestört hält, und die Tendenz, Veränderungen des gesellschaftlichen Gleichgewichtes entgegenzuwirken. Was das erste Prinzip betrifft, so beobachtet Pareto, daß für gewöhnlich "i residui della persistenza degli aggregati spariscono o sono insignificanti quando la legge penale non esiste ed ha solo luogo la vendetta personale; ma già appariscono dove la vendetta si allarga e diventa dovere della famiglia, della tribù" (TSG: II, § 1299). Die Pflicht tritt also auf, wenn man von dem privaten und unmittelbaren Handlungsimpuls abstrahiert und erscheint dabei als ein gleichzeitig abstrahierendes und entifizierendes Produkt gesellschaftlicher Denktätigkeit. Was die anderen beiden Prinzipien betrifft, so folgen sie einer Art Rechtspsychologie, die sich auf das Konzept des Gleichgewichts stützt. In dem Widerstand gegenüber Normverletzungen durch das Volk "si manifesta principalmente il sentimento che si oppone alle perturbazioni dell'equilibrio sociale" (TSG: III, § 1930). Pareto zufolge ist dies dasselbe Gefühl, das sich auch in der Annahme findet, daß gerecht sei, was gesetzlich ist. Eine solche Formel bedeutet nichts anderes als die Pflicht zu "rispettare volontariamente tutto ciò che è legale, che non si deve turbare l'equilibrio sociale esistente" (a.a.O.). Das Gleichgewicht erscheint hier nicht nur als eine Kraft, die gemeinsam mit ihren Kompensationen das ganze gesellschaftliche Aggregat zusammenhält (vgl. den Schlußteil des Trattato), sondern auch als ein psychisches Prinzip, welches das Verhalten des sozialen Individuums regiert. Bezüglich der anderen Frage, des Einflusses der im herkömmlichen Sinne verstandenen "Leidenschaften" auf das Recht, bemerkt Pareto, daß die Anwendung der zivilrechtlichen Bestimmungen im allgemeinen leicht ist, weil sie die Gefühle nur wenig erregt. Letztere erlangen hingegen eine große Kraft im Strafrecht und herrschen schließlich vollständig im Verfassungsrecht oder im internationalen Recht (TSG: I, § 841). Vom Gesichtspunkt der juristischen Logik aus, der die Entsprechung zwischen Normen und Verhaltensweisen betrifft, erklärt sich so der große Unterschied zwischen Zivilrecht, Strafrecht und Verfassungsrecht. Im Falle eines gegebenen Zivilrechts werden in der Praxis nur jene Abweichungen zur Kenntnis genommen, die der Rechtsprechung geschuldet sind, die sich parallel zum Gesetzestext etabliert hat (TSG: I, § 464). Das Strafgesetzbuch und die darin niedergeschriebenen Gesetze entsprechen mitnichten den praktischen Urteilen, denn ein Urteil hängt von vielen Gründen ab, von der schriftlichen Gesetzgebung bis hin zu politischen Einflüssen, von den ideologischen Neigungen der Richter und Geschworenen bis hin zum momentanen Eindruck, den bestimmte Umstände auf jene ausüben (TSG: I, § 466). Im Falle einer Verfassung schließlich gibt es keinerlei Beziehung zwischen Theorie und Praxis, höchstens, wie Pareto flüchtig schließt, "nella mente di pochi ed inutili teorici" (a.a.O.). Diese affektive Überdeterminierung des Rechts in seinen verschiedenen Zweigen bedeutet jedoch nicht, daß es ein bloßes Gerüst ohne praktischen Wert sei. Um das Beispiel des Strafrechts anzuführen: Wenn seine Normen wenig oder keinen Wert in den politischen Prozessen haben oder in solchen mit sexuellem Hintergrund, so ist dies dem Umstand geschuldet, daß ihre Anwendung dort auf starke Leidenschaften stößt. Diese Normen werden wiederum in jenen Prozessen tragend, in denen die Leidenschaften höchstens in leichter Form oder überhaupt nicht dazwischentreten. In Abwesenheit von Leidenschaften, die der Anwendung der Gesetze zuwiderlaufen, also in der Mehrzahl der Fälle, bewahrt das Recht seine hauptsächliche Funktion, reale Strafen (und nicht imaginäre, wie die göttliche Strafe) über bestimmte Verhaltensweisen zu verhängen.
Die "rückwirkende Verständigung". Die "negative" Bedingung der Abwesenheit starker Leidenschaften ist nicht die einzige Garantie für die Anwendung des Rechts. Es gibt auch eine "positive" Bedingung, die darin besteht, daß das Recht Gefühle manifestiert, die von den Individuen geteilt werden, auf die es angewandt wird. Dies ist offensichtlich im internationalen Recht der Fall, wo die rechtlichen Prinzipien "possono dare conclusioni che non siano in urto colla realtà se adoperati tra nazioni che in essi consentono, di cui manifestano sentimenti comuni; ma viene meno tale loro proprietà se manca questo consenso e questa comunanza di sentimenti" (TSG: IV, § 2572). Noch offener tritt dies im Falle politischer Konflikte zutage, wenn sich ein Teil der Bevölkerung gegen den anderen erhebt, und so die "Gemeinsamkeit in den Gefühlen" verlorengeht, auf die sich die Übereinstimmung der rechtlichen Prinzipien mit der Wirklichkeit gründet. Das heißt, um seine pragmatische Funktion auszuüben, muß das Recht auf einer Art rückwirkender Verständigung zwischen den Individuen beruhen, auf die es angewandt wird, so daß die juristischen Prinzipien eine Rechtfertigung in den Gefühlen finden, deren Ausdruck sie selbst sind (Abb.1).
Die Transformationen des Rechts. Wir haben gesehen, daß das Recht ein adaptives System ist, oder, anders ausgedrückt, ein System, das sich gegenüber einer Umwelt selbst organisiert. Welche aber sind die Mechanismen einer solchen Selbstorganisation? Einer dieser Mechanismen besteht in dem, was Pareto immer noch in Anlehnung an Sumner Maine "Fiktionen" nennt und die beliebige, auch falsche Behauptungen darstellen, die akzeptiert werden, um eine beliebige Norm aufrechtzuerhalten, wobei allerdings die Konsequenzen verändert werden (TSG: I, § 834). In diesem Zusammenhang zitiert Pareto weitere Beispiele aus der römischen Rechtsgeschichte (prätorische Interpretation der vorsätzlich erlangten Verbindlichkeiten oder der bonorum possessio), die zeigen, wie das prätorische Recht das Zivilrecht korrigierte, ohne dabei dessen logische Form zu verändern, wohl aber Interpretationen und Bestimmungen hinzufügend. Um seiner Argumentation in einen aktuellen Bezug zu stellen, kann man die gegenwärtige Debatte über die öffentliche Finanzierung der privaten (de facto katholischen) Schulen in Italien anführen. Es ist angemerkt worden, wie man einer Aufweichung der diesem Anliegen entgegenstehenden geltenden Verfassungsnorm beiwohnt, die von den Verfechtern einer solchen Finazierung vorgenommen wird. Diese bereiten sich darauf vor, das geltende Recht dank irgendeines formalistischen Drehs zu umgehen, wie üblich in unserem juristischen Rüstzeug.11 Wie man sieht, vollzieht sich hier die Identifizierung des Anpassungsmechanismus durch eine der beiden Parteien in einer polemischen argumentativen Absicht. Pareto seinerseits unterstreicht die allgemeine Entwicklungsfunktion, welche die "Fiktionen" ausüben und deren Resultat eine erhöhte Stabilität des Rechtssystems selbst ist. In einem weiteren Bezug auf die römische Rechtsgeschichte stellt Pareto dar, wie man mit den "Fiktionen", ohne es zu wollen, ein stabileres Rechtssystem erlangte und folglich auch die Möglichkeit, das Rechtskorpus zu konstituieren. Dies ist wahrscheinlich, so schließt Pareto, einer der Hauptgründe, warum das römische Recht eine solche Überlegenheit gegenüber dem Athener Recht erlangen konnte (TSG: I, § 836). Es ist schwer zu sagen, ob die Umgehung der Verfassungsnorm, die eine öffentliche Finanzierung der Privatschulen untersagt, die Stabilität des italienischen Rechtssystems erhöhen können wird und ihm so eine gewisse Überlegenheit gegenüber anderen Rechtssystemen zuzuschreiben vermag. Sicher ist, daß in einer systemischen Sicht auf das Recht, wie sie Pareto eigen ist, die Privilegierung des Wertes der Stabilität als kohärent zu seinen Voraussetzungen erscheint. In Anlehnung an das Prinzip der "Ordnung aus dem Rauschen", das von H. von Foerster in Bezug auf die allgemeine Systemtheorie formuliert wurde,12 kann man sagen, daß der adaptive Mechanismus der "Fiktionen" es dem Recht erlaubt, das "Rauschen" der Umwelt, an das es sich anzupassen hat, gemäß seinen internen Eigenschaften zu transformieren, d.h. in einen höheren Grad von Stabilität.
So wie das Recht scheint bei Pareto auch die Moral als ein adaptives System darstellbar. Er bemerkt, daß sowohl tierische Gesellschaften als auch menschliche Gesellschaften "hanno per necessario fondamento una benevolenza reciproca degli individui" (TSG: II, § 1145). Altruistisches Verhalten ist also keine Eigenschaft tugendhafter Menschen, sondern ein instinktives Verhalten, das der Mensch mit anderen Arten teilt. Anderen gegenüber wohlgesonnen zu sein bedeutet so, spontan Ziele zu verfolgen, die den gesellschaftlichen Selbstregulierungen entsprechen. Andererseits erkennt Pareto, daß es in den Menschen über den Altruismus hinaus auch ein Gefühl gibt, das ihm die Anerkennung des eigenen Verhaltens durch andere suchen läßt (TSG: II, 1148). Dies hat richtigerweise zu der Feststellung geführt, daß die Moral bei Pareto eine gesellschaftliche Kontrollfunktion ausübt.13 Von einem systemischen Standpunkt aus bedeutet das auch, daß die kollektive Wertschätzung moralischen Verhaltens analog zum Recht wie eine Art rückwirkende Verständigung funktioniert. In diesem Sinne finden die moralischen Normen eine Rechtfertigung in den Gefühlen, deren Ausdruck sie sind (Abb. 2).
Wie man sieht, wird auch im Falle der Moral die Systemstabilität bevorzugt. Es fällt aber dennoch auf, daß in der Paretianischen Moralauffassung im Unterschied zum Recht kein "latentes Prinzip" ausgemacht wird, das die Moral mit der allgemeinen Entwicklung der Gesellschaft verbindet. Pareto scheint sich hier in einer Schwierigkeit zu befinden, die sich vom Cours d'économie politique (1896) zum Trattato noch verschärft. So finden sich Abschnitte im Cours,14 in denen Pareto nicht nur die moralische Entwicklung klar zur Kenntnis nimmt, welche die modernen Gesellschaften charakterisiert, sondern auch das nicht-logische Prinzip, das sie bestimmt. Dies ist der Fall, wenn er gegen diejenigen polemisiert, welche die Verbindung zwischen materiellem, intellektuellem und moralischem Fortschritt unterbewerten. Dabei erhellt er zwei Punkte. Vor allem: "la caratteristica dei popoli moderni più civili è l'indipendenza intellettuale, morale e religiosa dell'individuo e la differenziazione che ha quasi privato lo Stato di ogni autorità in queste materie" (Cours, § 687). Zweitens: "nel progresso materiale, intellettuale e morale tutto è collegato: non si può isolare un fatto dall'ambiente in cui si manifesta" (a.a.O.). Es wird deutlich, daß es sich hier zum einen um eine klare Anerkennung der fortschreitenden Durchsetzung des Prinzips moralischer Autonomie in den modernen Gesellschaften handelt; zum anderen liegt hier aber auch ein starker Verweis auf das allgemeine Entwicklungsprinzip, das die Entwicklung der materiellen Lebensbedingungen, der Kognition und der Moral miteinander verbindet. Pareto beschränkt sich jedoch nicht darauf. Wenn auch im Rahmen eines Ansatzes, den man als politisch konservativ definieren würde, scheint er eine solche Entwicklung theoretisch zu stützen. Dies wird ebenfalls im Cours deutlich, wo er die Theorie der "Vormundschaft", verstanden im Sinne einer allgemeinen Form der Gesellschaft, entwirft. Dieser Theorie zufolge, die weder im Manuel d'économie politique (1905)15 noch im Trattato wieder aufgenommen wird, muß der Vormund dem Mündel intellektuell und moralisch überlegen sein. Er muß seine Autorität im Interesse, und nicht zum Schaden des Mündels einsetzen. Er darf die Entwicklung von dessen Fähigkeiten, sich selbst zu bestimmen, nicht behindern (Cours, § 663). Es handelt sich hier offensichtlich um eine gesellschaftliche Beziehung, die gewiß einseitig ist, in deren Resultat das Mündel jedoch in eine Lage auch moralischer Autonomie versetzt wird. Dieses Modell, das alles in allem offen für ein solches Prinzip ist, taucht in der weiteren Entwicklung des Paretianischen Denkens nicht mehr auf. Es mag ausreichen, diesbezüglich ein Beispiel anzuführen, das Pareto im Trattato bringt und in dem es um die Unterdrückung von Delikten in den modernen Gesellschaften geht. Er stellt dort fest, wie "da un secolo circa a questa parte, la repressione dei delitti è diventata ognor più mite" (TSG: II, § 1133). Er bringt dies mit einer Auffassung in Zusammenhang, derzufolge die Gesellschaft für das Delikt verantwortlich sei. Für Pareto ist nun eine solche Auffassung der Ausdruck einer affektiven Übertragung, die durch gesellschaftliche Frustrationen, Schwächen, wenn nicht gar durch moralische Feigheit ausgelöst wird (TSG: II, § 1138). Selbiges gilt auch für die moralischen und juristischen Auffassungen, welche die Absichten des Verhaltens berücksichtigen und eher auf die Wiedereingliederung des Schuldigen als auf die Strafe setzen. Die Entwicklung der Moral wird hier offensichtlich als fortschreitender Verfall jener ursprünglichen Form von Verantwortlichkeit dargestellt, die nicht so sehr die Absichten eines Verhaltens bewertet, sondern sich darauf beschränkt, dessen Konformität in Bezug auf eine bestimmte Norm festzustellen. In krassem Gegensatz zur Anerkennung des Prinzips moralischer Autonomie, dessen Auftauchen, wie gezeigt worden ist,16 Transformationen auch des Begriffes der moralischen Verantwortlichkeit bewirkt, wird das Individuum hier verstanden als eines "inneren Gerichtes" ledig und von Automatismen regiert, die sich ausschließlich auf äußere Parameter beziehen. Angesichts des oben Gesagten wundert es nicht, daß Pareto die Gesellschaft schließlich als einen Organismus beschreibt, der nur durch eine auf Prestige gegründete Beziehung zwischen Regierten und Regierenden geleitet werden kann. Schon im Cours unterstreicht er, daß sich die Vormundschaft in der Praxis immer über den Umstand des Prestiges realisiert, denn dieses dient dem Vormund dazu, seine Funktion auszuüben (Cours, § 668). Erst im Trattato wird Pareto anläßlich der "Gefühle der Hierarchie", die in den Regierenden wie in den Regierten wirken, die Konstellation der Gefühle des Prestiges beschreiben: Gefühle der Protektion und des Wohlwollens bei den Regierenden; Gefühle der Unterwerfung, der Zuneigung, der Ehrerbietung und der Furcht bei den Regierten (TSG: II, §§ 1155-6). Ich möchte nur nebenbei bemerken, daß für einen Moraltheoretiker wie Piaget eine solche Konstellation, die für Pareto keine Entwicklungsmöglichkeit aufweist, einem Stadium der moralischen Entwicklung entspricht, das dem Erscheinen des Prinzips der moralischen Autonomie vorausgeht und es vorbereitet.17
Worin besteht nun vor dem Hintergrund der hier behandelten Rechts- und Moralauffassung die Funktion des Diskurses? Was das Recht betrifft, so haben wir oben gesehen, daß sich das Prinzip der universitas iuris nach Pareto nicht aus einem angenommenen Begriff der Korporation ableitet, sondern aus der fortwährenden Beständigkeit der Besetzung und des Besitzes von Boden. Nun beobachtet Pareto, daß etwas Ähnliches auch im Tierreich vorkommt. Die großen Raubkatzen mit ihren Jagdrevieren, die Ameisen mit ihren Haufen oder die Schwäne auf dem Genfer See, die er direkt beobachten kann, besetzen einen gewissen Raum, der ihrer Gruppe eigen bleibt, sofern ihn der Mensch nicht stört. Jedoch, wie Pareto ironisch schließt, haben die Raubkatzen, die Schwäne oder die Ameisen weder einen Begriff der Korporation noch der Sukzession. Nur im Menschen erzeugt das Faktum den Begriff. Dieser möchte dann darüber hinaus auch noch das Warum des Faktums finden (TSG: I, § 256). Die korrekte Abfolge, welche die "wissenschaftliche" Soziologie erhellt, wäre dann die folgende:
Der juristische Dirkurs hingegen, insofern er das diritto fatto nicht betrachtet, reduziert diese Abfolge auf eine einfachere:
und läßt so schließlich diejenigen soziokognitiven Prozesse im dunkeln, die dem Recht selbst zugrundeliegen. Dasselbe läßt sich auch für die Moral sagen. Der in den bürgerlichen Gesellschaften lebende Mensch erlangt nach Pareto eine Vertrautheit mit gewissen moralischen Beziehungen, die sich in Imperativen der Art "Tu dies!" ausdrücken. Solche Beziehungen werden dann verallgemeinert und entifiziert: "Gott/die Gesellschaft befiehlt dir, dies zu tun". Man gelangt so zur Auffassung einer absoluten Moral, und jene Beziehungen, die mit der Gesellschaft entstanden und gewachsen sind, werden nicht nur als präexistent, sondern geradezu als ursprünglich angesehen (TSG: III, § 1501). Das Terrain ist also bereitet für die Rechtfertigung solcher absoluter Prinzipien: "Gott/die Gesellschaft befiehlt dir, dies zu tun, weil...". Auch hier erhellt die wissenschaftliche soziologische Analyse eine Abfolge, die von den mit der Gesellschaft selbst entstandenen und gewachsenen Beziehungen zu den absoluten Prinzipien und schließlich zu den Rechtfertigungen übergeht:
Aber wie im Falle des Rechts übt der Diskurs auch bei der Moral eine verdunkelnde Funktion aus, so daß als einzige Beziehung diejenige zwischen absoluten Prinzipien und Rechtfertigungen sichtbar bleibt:
Angesichts dieses weiteren Parallelismus ist allerdings zu fragen, ob Paretos Kritik des gängigen juristischen Diskurses ebenso gründlich ist wie jene des moralischen Diskurses. Bei diesem letzten Punkt werde ich mich in den Schlußfolgerungen aufhalten.
Paretos Rechts- und Moraltheorie kann als eine Kritik der Verschleierungseffekte angesehen werden, die der Diskurs bezüglich der tatsächlichen Prozesse produziert, die bei der Entstehung und Strukturierung der Welt des Normativen im Spiel sind. Im Blick auf das Recht scheint eine solche Kritik anregend zu sein, da Pareto das Recht dank einer systemischen Auffassung avant la lettre mit den allgemeineren gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen verbindet. Anders sieht das Ergebnis jedoch im Falle der Moral aus, wo Inkohärenzen auftreten, die seine Behauptungen weniger überzeugend erscheinen lassen. Wenn man im Sinne des oben Gesagten richtig sieht, kann das Prinzip der moralischen Autonomie so wie die "latenten Prinzipien" des Rechts als ein "latentes Prinzip" der Moral betrachtet werden. Analog zur Anerkennung des Wertes der Arbeit in Bezug auf den bloßen Besitz bringt auch das Auftreten des Prinzips der moralischen Autonomie auf dem Feld der Moral eine verschiedene Bewertung des Abstrakten in Bezug auf das Konkrete und schließlich eine Erhöhung der Abstraktion mit sich. Wie wir gesehen haben, erkennt Pareto im Cours, wenn nicht das Prinzip der moralischen Autonomie, so doch das Auftreten jener materiellen, kognitiven und ethischen Prozesse an, die in den modernen Gesellschaften zu dieser Autonomie führen. Darüber hinaus erkennt er mit seiner Theorie der Vormundschaft implizit an, wie dies ein unvermeidliches Resultat der Vormundschaftsbeziehung ist. Wer die Vormundschaft ausübt, hat in der Tat die volle intellektuelle und moralische Entwicklung des Mündels und damit die Erreichung einer Lage moralischer Autonomie zum Ziel. Im Trattato zieht Pareto allerdings nicht alle Schlußfolgerungen aus diesen früheren Positionen, sondern er ersetzt die Theorie der Vormundschaft durch die "eisernere" Theorie der einseitigen und nicht modifizierbaren Beziehungen des Respekts und des Prestiges zwischen Regierenden und Regierten. Vielleicht müßte seine Theorie der Eliten in eben diesem Zusammenhang untersucht werden, von einer möglichen Öffnung für die Besonderheiten der Welt der Moral zum Sich-Verschließen desjenigen, der entschlossen ist, einer gewissen Idee des politischen Realismus jeden Preis zu zahlen. Für den Pareto des Trattato ist die Elite ein unveränderlicher Tatbestand. Mit einem berühmt gewordenen Satz behauptet er, daß die Geschichte ein Friedhof von Eliten sei, also ein Aufeinanderfolgen ständig neuer, aber in ihrer Struktur unveränderlicher einseitiger Beziehungen des Respekts zwischen Regierenden und Regierten. Ich möchte daran erinnern, wie verschieden in diesem Punkt ein Antonio Gramsci denkt. Obwohl er den "technischen" Umstand der Trennung in Regierende und Regierte selbst innerhalb einer homogenen sozialen Gruppe akzeptiert, legt er dar, daß bei der Heranbildung von Führern der Ausgangspunkt folgender sein müsse:
"Si vuole che ci siano sempre governati e governanti oppure si vogliono creare le condizioni in cui la necessità dell'esistenza di questa divisione sparisca? cioè si parte dalla premessa della perpetua divisione del governo umano o si crede che essa sia solo un fatto storico, rispondente a certe condizioni?18
Hier scheint Gramsci, ein politischer Führer, dazu ein politischer Führer, der im Gefängnis sitzt, die Utopie zu streifen. Aber wenn wir übersetzen, was uns Gramsci sagen will, können wir feststellen, daß für ihn zu den Zielen des politischen Handelns auch die Umwandlung einseitiger Beziehungen des Respekts in Richtung von Gegenseitigkeit gehören kann. Ist dies ein ganz utopisches Ziel? An dieser Stelle möchte ich, wenn auch nur zur Exemplifizierung und im Bewußtsein der Begrenztheit des Beispieles, auf die politische Handlung eines Danilo Dolci hinweisen19 , die einem ähnlichen Ziel diente. Denn was hat Dolci beabsichtigt, wenn nicht eine Transformation der einseitigen Beziehungen des Respekts innerhalb der Gemeinschaft, in der er tätig war? Als er in der Mitte der fünfziger Jahre in der sizilianischen Gemeinde Partinico ankommt, stellt sich ihm als Hauptproblem, wie es zu bewerkstelligen sei, diese "Menschen ohne Sinn für Verantwortung" dazu zu bewegen, die Macht wiederzuerlangen, die sich der mafiose Klüngel angeeignet hat. Das von Dolci gewählte Mittel ist nicht die Gewalt, sondern eine "Selbstanalyse des Volkes". Der mafiose Klüngel begibt sich so auf den Friedhof der Geschichte, und das Endresultat besteht darin, daß sich die Macht in so viele kleine Teile aufgesplittert hat, wie Individuen an diesem Transformationsprozeß teilgenommen haben. Es ist eine Gemeinschaft "verantwortlicher" und vom ethisch-politischen Standpunkt autonomer Personen entstanden. In diesem Prozeß ersetzt die von Dolci mittels der "Selbstanalyse des Volkes" geschaffene Elite nicht einfach die alte. Sie erscheint selbst als umgewandelt, insofern sie kein Machtzentrum mehr darstellt, das ein anderes ersetzt, sondern zu einem Agenten der Transformation wird. Anders ausgedrückt, verschwindet die Elite nicht, sondern wird zu einem Ferment in der Transformation einseitiger Beziehungen des Respekts.
Ich kann hier nicht weiter zu dieser Auffassung und zu dieser Praxis der Elite abschweifen, die Dolci veranschaulicht. Ich möchte jedoch dem möglichen Einwand zuvorkommen, daß das Tätigkeitsfeld Dolcis nur ein kleiner sozialer Kreis ist und daß der überdies nur relative Erfolg seiner Transformationspraktiken eben durch das kleine Ausmaß jenes Kreises begründet wird. Wir wissen jedoch nicht, ob die riesigen Welten der modernen Massengesellschaften zuerst zerlegt und dann durch Handlungen à la Dolci neu gestaltet werden können, welche die einseitigen Beziehungen des Respekts umwandeln. Wie Pareto würde auch ein Max Weber, wenn auch nicht vom "wissenschaftlichen" Standpunkt, sondern von dem der "historischen Narration" zu einem Nein neigen. Für Weber haben die erfolgten Transformationen einerseits die Entzauberung und die unauthentische Massengesellschaft produziert und andererseits die kleinen und um Authentizität bemühten Gemeinschaften.20 In der Erzählung Webers findet sich so etwas wie ein Eindruck des Angekommenseins, der Richtungslosigkeit, dem zufolge alles bereits geschehen ist. Ein Dolci wäre dann nur der Protagonist einer kleinen Gemeinschaft, die nach einem authentischen Leben sucht. Das Problem besteht jedoch darin zu verstehen, ob die unauthentische Massengesellschaft die letzte Grenze der Menschheit darstellt oder ob die Transformation der einseitigen Beziehungen des Respekts wie nach Gramsci ein, wenn auch schwer zu erblickender, Horizont der Politik und der Moral sein kann. Dies ist ein Thema, das auch von einem theoretischen Standpunkt der Untersuchung wert ist.
1Aus dem Italienischen übersetzt von Falk Seiler.R
2 H. Sumner Maine, Ancient Law (1861), London 1880, Kap. V, S. 122, zit. in Trattato di sociologia generale, Torino, 1988; krit. Ausg. in 4 Bänden, hrsg. von G. Busino, Bd. 1, § 256. Ich werde dieses Werk Paretos im folgenden mit der Abkürzung TSG zitieren, gefolgt von der Angabe des Bandes (römisch) und des Paragraphens (arabisch).R
3 H. Sumner Maine, L'ancien droit considéré dans ses rapports avec l'histoire de la société primitive et avec les idées modernes, Paris 1874, S. 119, zit. in TSG: I, § 256, Anm. 2.R
4 Vgl. H. Sumner Maine, Ancient Law (Anm. 2), Kap. V, S. 122, zit. in TSG: I, § 256.R
5 Bei einigen römischen Juristen findet man den Begriff der universitas (eine Gruppe von Dingen, die juristisch als eine von der einfachen Summe verschiedene Einheit angesehen werden, z.B. eine Herde), in Anwendung auf die hereditas (das Erbe), das außer den Gütern des Verstorbenen auch die Gesamtheit seiner Rechte und übertragbaren Verpflichtungen umfaßt. Zu den einfachen, zusammengesetzten und kollektiven Dingen im römischen Recht allgemein vgl. C. Sanfilippo, Istituzioni di diritto romano, Università degli Studi, Catania, 1964, S. 71.R
6 L'esprit du droit romain dans les diverses phases de son développement (1852), Paris 1880, 4 Bde., Bd 1, S. 30.R
7 Diese Punkte habe ich in anderen Arbeiten behandelt, auf die ich mir erlaube hinzuweisen: F. Aqueci, Discorso ragionamento azione in Pareto, Casale Monferrato 1990; ders., Le funzioni del linguaggio secondo Pareto, Bern 1991.R
8 G. Fassò, La filosofia del diritto dell'Ottocento e del Novecento, Bologna 1994, S. 167.R
9 J. Piaget, Réussir et comprendre, Paris 1974.R
10 P.-F. Girard, Manuel élémentaire de droit romain, Paris 3 1901, S. 317, zit. in TSG: I, § 808.R
11 A. Schiavone, "Chi vuole distruggere la scuola pubblica?", in: La Repubblica, 31. Mai 1998, S. 15.R
12 H. von Foerster, Sistemi che osservano (1982), Roma 1987, S. 63.R
13 W.J. Samuels, Pareto on Policy, Amsterdam/London/New York 1974, S. 150.R
14 Ich benutze die italienische Version, hrsg. von G. Palomba, Torino 1971, die ich im Text mit der Abkürzung Cours, gefolgt von der Angabe des Paragraphen, zitiere.R
15 Heute in der Ausgabe: Manuel d'économie politique. Préface de Roger Dehem, Genève 1966.R
16 J. Piaget, Il giudizio morale nel fanciullo (1932), Firenze 1972.R
17 Ebenda.R
18 A. Gramsci, Quaderni del carcere, Torino 1975, krit. Ausg. in 4 Bänden, hrsg von V. Gerratana, Bd. 3, S. 1752.R
19 Ich habe dies bereits an anderer Stelle und mit anderen, aber konvergenten Absichten getan: F. Aqueci, "Argumentation et dialogue: le problème de la compréhension dans les échanges socio-discursifs", in L'Année sociologique, 45, 1995, n. 1, S. 13-34.R
20 M. Weber, Wissenschaft als Beruf (1918), Berlin 1991.R